Wahrhaftig vor sich selbst

Schon um 22 Uhr rief Zeynep nach Selma. Sie brachte ihr Wasser, legte sich zu ihr und summte leise die Melodie, die sie immer anstimmte. Um 2 Uhr nuschelte Ünal Unverständliches. Es dauerte bis Selma erkannte, dass er auf Toilette musste. Zum Glück schliefen Zeynep und Salih weiter - doch um 4 Uhr rief Zeynep wieder nach ihr. Sie war so unruhig, dass Selma bei ihr weiterschlief und so gut wie möglich versuchte, die stetigen, unkontrollierten Tritte und Stöße von ihr zu ignorieren. Als der Wecker um 6:45 Uhr klingelte, seufzte Selma und stand auf. Sie wusch ihr Gesicht und fing an, das Frühstück vorzubereiten. Zeynep war wachgeworden und schrie, auch Ünal fing an zu meckern. Er wollte nicht zur Kita und wehrte sich dagegen, angezogen zu werden. Zeynep wollte ständig auf den Arm genommen werden.

Die Tür zum Elternschlafzimmer flog auf. “Was für ein Lärm“ fluchte Aslan - ihr Mann - und verschwand im Badezimmer. Selma kämpfte gegen die Tritte von Ünal an, um ihm die Hose anzuziehen. Ein Fuß traf sie im Gesicht - plötzlich bohrte sich ihre Hand fest in seinen Oberschenkel. Ünal schrie auf vor Schmerz - und fing an zu weinen. “Entschuldigung“ flüsterte sie. Sie nahm Zeynep auf den Arm und ging in die Küche - das Essen war noch nicht vorbereitet.

Eine Stunde später hatte sie Salih verabschiedet und Ünal zur Kita gebracht. Er hatte geschluchzt. Auf dem Rückweg schob sie Zeynep im Kinderwagen und kam an der Bäckerei vorbei.

Sie zögerte. “Wir brauchen Brot“ flüsterte sie dann. Sie sagte es nochmal, etwas lauter. Sie strich ihr Haar glatt, entfernte ein wenig Schmutz von ihrer Jacke und zog den Lippenstift nach. Sie trat ein.

Ismail lächelte sie verschmitzt an. „Wie immer?“ sagte er leise, fast flüsternd. Selma hoffte, sie würde nicht erröten. Seit der Grundschule kannten sie sich, aber Ismails Effekt schien sich eher zu verstärken.

Zuhause angekommen wachte Zeynep auf und schrie nach Brei. Selma seufzte und rührte ihr Essen an, während Zeynep auf ihrer Hüfte saß.

Es war 8:30 Uhr. Der Tag hatte angefangen.

 

Legen wir fest, dass Selma verliebt in Ismail ist. Die objektive Wahrheit wäre dann: Selma empfindet ein Gefühl für Ismail, welches die meisten Menschen als Liebe bezeichnen würden. Doch dies heißt nicht, dass Selma sich dies auch so bewusst macht: Es ist nur eine Schwärmerei könnte Sie denken, oder aber Wir kennen uns schon so lange, deswegen verstehen wir uns gut. Selmas subjektive Wahrheit entspricht nun offensichtlich nicht der objektiven Wahrheit. Wobei wir uns darüber streiten könnten, ob Selma nicht im Grunde Zugang zu dieser objektiven Wahrheit hat - aber sie halt ausblendet. Es gäbe bewusste wie unterbewusste Erklärungsmöglichkeiten für Ihr Verhalten. Wäre es zu schmerzhaft, es anzuerkennen? Wäre es zu riskant, weil es zu Veränderungen kommen könnte? Kann nicht sein, was nicht sein darf? Viele mögliche Gründe.

Und kein einziger davon ist gut genug.

Denn wir sollten in allen unseren Vorstellungen an das Herankommen, was der objektiven Wahrheit am nächsten kommt und diese dabei vor uns selbst uneingeschränkt anerkennen. Wir müssen unsere subjektive Wahrheit also so formen, dass sie die objektive Wahrheit möglichst „richtig“ abbildet. Wir müssen versuchen, die Wahrheit der Welt zu modellieren.

Selma sollte uneingeschränkt annehmen, dass sie anscheinend in Ismail verliebt ist. Was sie aber anderen darüber erzählt, oder welche Entscheidung sie auf Basis dieser Einsicht trifft, ist eine andere Sache. Sie brauchen der Welt nicht jedes Mal vollkommen ehrlich mitteilen, was Sie für die Wahrheit halten. Aber was sie sich selbst über die Welt erzählen, sollte wahrhaftig sein.

Jetzt sagen Sie vielleicht Kunststück! Ich bin schon so drauf, dass ich mich der objektiven Wahrheit stelle! Dann frage ich Sie: Welches Kind haben Ihre Eltern favorisiert? Lieben Sie Ihren Partner und Ihr Partner Sie? Haben Sie genug Zeit für die Kinder? Sollten Sie wegen dieser einen Sache nicht zum Arzt? Sind Sie gut in Ihrem Job? Empfinden Sie Freude an Ihrem Leben? Haben Sie echte Freunde? Wollten Sie (k)ein Kind?

Vielleicht hat Ihnen eine der Fragen einen Stich versetzt? Warum sollten Sie auch bei solchen Fragen ehrlich vor sich selbst sein? Warum nicht die Wahrheit ein wenig ignorieren, um sich besser zu fühlen? Aus zwei Gründen:

  1. Objektive Wahrheit ist die Voraussetzung für sinnvolle Handlungen.
  2. Sich objektiver Wahrheit auszusetzen reduziert die Angriffsfläche, die das Leben auf Sie hat.

 

 


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