Sich vor Wahrheit schützen, indem man auf sie zugeht
Nehmen wir an, Ihre Eltern hätten immer schon Ihre Schwester Melanie favorisiert. Wenn Sie diese Tatsache geflissentlich ignorieren, so werden sie sich in vielen Situationen wiederfinden, in denen Sie schmerzlich daran erinnert werden. Denn wenn Ihre Eltern Melanie vorziehen, so wird sich dies wahrscheinlich auch hin- und wieder zeigen. Und es wird Ihnen einen Stich geben. Die Wahrheit greift Sie an. Wenn Sie die kleinen Signale weiterhin ignorieren, so trainieren Sie Ihr Gehirn darauf, solche Situationen zu erkennen. Es muss schließlich wissen, was es ignorieren soll.
Sie könnten auch Ihre Eltern mit Ihrem Eindruck konfrontieren, aber was sollte das bringen? Werden Sie auf sich auf magische Weise ein wenig von Melanie entlieben, und die Differenz auf die Liebe zu Ihnen hinzuaddieren? (Wobei Sie natürlich erreichen könnten, dass Ihre Eltern sensibler mit dem Thema umgehen.)
Und wenn Sie es doch schaffen, jahrelang diese Wahrheit zu ignorieren, so könnte es passieren, dass Sie sich bei der Verlesung des Testaments wundern. In dem Fall hätten Sie es geschafft, die vielen kleinen Signale der Wahrheit zu ignorieren, nur um am Ende auf dieses große Signal zu stoßen. Auch hier greift die Wahrheit Sie an.
Was aber wäre gewesen, wenn Sie irgendwann auf dem Weg die kleinen Signale richtig gedeutet hätten: Meine Eltern lieben Melanie mehr als mich. Eine schmerzliche Sache wäre das, gewiss. Wie soll man damit umgehen? Zunächst muss man es anerkennen, so wie man auch anerkennt, dass sich auf dem Weg vor einem eine Laterne befindet. Es hilft nichts, die Laterne zu ignorieren. Und es hilft auch nichts, die Gegebenheiten Ihrer Familie zu ignorieren. Der Schmerz, den Sie durch die Anerkennung dieser Wahrheit empfinden, ist eine Impfung gegen den Schmerz, den Sie durch das Übergehen dieser Wahrheit empfinden werden. Und meistens ist der erste Schmerz deutlich kleiner als der zweite.
Wenn Sie akzeptieren würden, dass Ihre Eltern Melanie eben mehr lieben als Sie, so könnten Sie sich den vielen kleinen Signalen Ihrer Eltern besser aussetzen. Es würde wehtun, aber nicht mehr so sehr. Denn Sie hätten die Wahrheit akzeptiert. Komplette Akzeptanz würde gar bedeuten, dass es nicht mehr wehtut. Es ist wie es ist. Und vielleicht ist es nicht gut wie es ist, aber es ist eben so.
Nach dem Schmerz aber, öffnet sich die Welt wieder: Verzeihen Sie Ihren Eltern? Räumen Sie Ihnen weniger/mehr Platz in Ihrem Leben ein? Wie gehen Sie trotz der ungleich verteilten Liebe gerecht mit Melanie um?
Beachten Sie, dass es viele Wege für das Leben gibt, Sie mit unangenehmen Wahrheiten zu konfrontieren. Je früher wir auf diese Wahrheiten reagieren und und mit Ihnen auseinandersetzen, desto eher umschiffen wir die großen Katastrophen des Lebens. Eine über geraume Zeit angestaute Lebenslüge kann Sie vernichten, wenn sie Sie einholt.
Ein Beispiel:
Der Vater hat sein Leben lang sehr viel gearbeitet und war wenig zu Hause. Nun hat er keinen Bezug mehr zu seiner Familie. Ich möchte euch etwas bieten, daher arbeite ich soviel hatte er immer gesagt. Und dabei gelogen. Denn er hatte auch viel gearbeitet, weil er das wollte. Weil ihm die Zeit zu Hause langweilig erschien und weil er dachte, das sei nichts für Männer. Im Ergebnis hat er nun Geld, aber keine Beziehungen. Das Haus ist leer.
Warum warten wir eigentlich, bis die Wahrheit uns regelrecht anschreit? Warum lassen wir uns so häufig auf dieses sinnlose Ringen mit ihr ein? Warum heißen wir sie nicht willkommen wie einen Boten, der eine Nachricht bringt? Wir werden doch wohl den Umschlag öffnen, auch ohne seinen Inhalt vorher zu kennen? Und wir werden den Boten nicht umbringen für das, was eben so ist wie es ist.
Dort, wo die Wahrheit wirklich Zuhause ist, lässt sich nur schwer an ihr vorbei leben. Was wäre, wenn der Vater früh genug einen ehrlichen Moment gegenüber sich selbst gehabt hätte? Wenn er sich daraufhin klargemacht hätte, welche Konsequenzen seine Entscheidungen haben? Vielleicht hätte er früher andere Wege beschritten und das Haus wäre nicht leer?
Vielleicht aber hätte er auch alles wieder so gemacht. Aber zumindest hat er sich währenddessen nicht selbst über seine Motive und die Folgen angelogen. Sein Haus wäre dann nach wie vor leer, aber er könnte wahrscheinlich besser damit umgehen.
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