Gedankenräume

Ausschnitt aus dem Journal Boost Productivity

Anne und Bernd haben die gleichen fachlichen Fähigkeiten und starten unter den gleichen Bedingungen die gleiche Aufgabe: Schreiben Sie Ihre Masterarbeit vom Beginn des Jahres an bis zum 01.06.2020 (6 Monate).

Anne analysiert, welche Kriterien eine erfolgreiche Masterarbeit erfüllt. Anschließend zerlegt sie die Aufgabe in Teilschritte und notiert realistische Deadlines für diese. Sie gibt sich eine Orientierung, wie viel sie täglich schaffen muss und überprüft, ob sie ihr Tagespensum auch tatsächlich erledigt und nimmt Änderungen vor, wenn sie es nicht schafft. Sie ist die meiste Zeit mit dem Objekt selbst beschäftigt. Sie hat ein Gefühl der Kontrolle und kommt häufig in einen Flow. Kurz vor der Abgabe ist der Druck hoch, aber nicht unangenehm. Sie erhält eine 1.

Bernd schreibt sich einen großen Zettel Masterarbeit und visualisiert, wie hart er arbeiten wird, um eine ausgezeichnete Masterarbeit zu schreiben. Er sieht den Tag vor sich, wie er freudestrahlend die Arbeit abgibt und die Dozentin ihm anerkennend die Hand schüttelt. Dann fängt er hoch motiviert an, denn bereits das Thema der Masterarbeit soll beeindrucken. Sein Anspruch ist so hoch, dass er sehr viel Zeit in die Themenfindung investiert. Er verliert sich in Details und misst Ihnen eine unverhältnismäßige Bedeutung zu. Wenn bereits das Thema zu finden so schwer ist, wie soll er dann durch die ganze Masterarbeit kommen? Die Aufgabe wird immer größer und unübersichtlicher. Von seinen unangenehmen Gefühlen geleitet, lenkt er sich mit kleineren ToDo’s und Medien ab. Auf Filme und kleine Videoclips reagiert er ungewöhnlich emotional. Mehr und mehr zweifelt er an seiner Kompetenz und dem Sinn der Aufgabe. Plötzlich sieht er ab und an auch eine enttäuschte Dozentin vor sich. Was würde seine Freundin sagen, wenn er eine schlechte Note bekommt? Oder gar durchfällt? Verzweifelt und mit großem Kraftaufwand setzt er sich immer wieder an die Aufgabe, prokrastiniert, kommt in weiteren Zeitverzug und hat ein schlechtes Gewissen deswegen. Der Druck ist fast durchgehend sehr hoch und unangenehm. Am Ende erhält er eine 3. 

Der größte Unterschied zwischen 1er-Anne und 3er-Bernd liegt in dem, womit sie sich gedanklich während des Arbeitsprozesses beschäftigen. Sie betreten unterschiedliche Gedankenräume. Eine mögliche Kategorisierung solcher Gedankenräume findet in der folgenden Abbildung:

In Raum 1 befinden sich alle Gedanken zum eigentlichen „Objekt“ der Arbeit. Also alle Arbeitsschritte und Inhalte, die bearbeitet werden müssen, um zum Ergebnis zu kommen. Ist das Oberthema der Masterarbeit von Anne Der Nationalsozialismus, so sind die einzelnen Elemente zum Beispiel Repräsentationen für einzelne Kapitel.

In Raum 2 sind alle gedanklichen Exkurse repräsentiert, die durch das Objekt ausgelöst werden, aber nichts mit seinen Inhalten zu tun haben. So überlegte Bernd beispielsweise, wie er vor der Dozentin dasteht, wenn er die Masterarbeit abgibt. In Raum 3 befinden sich alle Gedanken außerhalb von Raum 1 und 2.

Welche Räume steigern Produktivität, welche senken sie? Sie können dem Ergebnis im Grunde nur näherkommen, wenn Sie sich in Raum 1 aufhalten: Im Objekt, das Sie bearbeiten. Anne befand sich während ihres Arbeitsprozesses hauptsächlich in diesem Raum.

Wie ist es bei Bernd? Er visualisiert den Arbeitsprozess und Szenarien an dessen Ende, noch bevor er anfängt. Er will seine Umgebung beeindrucken und denkt dessen Erwartung damit auch während der Bearbeitung fortlaufend mit. Was wird die Dozentin dazu sagen, wenn ich das so schreibe? Er will etwas Besonderes leisten und auf keinen Fall versagen. Das macht ihm Angst und verunsichert ihn. Es ist sichtbar, dass Statusfragen ständig präsent sind. Auf diese Weise wird die Masterarbeit zu einer sehr persönlichen Angelegenheit. Bernd ist nicht in Raum 1, er ist in Raum 2. Er denkt über Dinge nach, die mit dem Objekt zu tun haben, aber nicht über Inhalte des Objekts. Wenn er sich beispielsweise vorstellt, wie er arbeiten wird, arbeitet er währenddessen nicht.

Denken Sie an die Führerscheinprüfung: Sie sind davor eventuell nervös und aufgeregt, gehen mögliche Konsequenzen des Scheiterns durch. Dann geht die Prüfung los. Es kann passieren, dass Sie in das Fahren hineinkommen und Ihre Aufmerksamkeit genau in dem aufgeht, was Sie tun sollen. Das Ganze kann dann zu einem Abbild dessen werden, was es eigentlich ist: Autofahren. Hier befanden Sie sich vor der Prüfung zwar in Raum 2, Sie haben aber während der Prüfung in Raum 1 gewechselt.

Oder aber Sie denken während der Fahrt an den Prüfenden auf dem Rücksitz und überlegen bei Fehlern, ob dies bemerkt wurde. Sie überlegen, wie es sich anfühlen würde, wenn Sie jetzt einen Fehler machen und durchfallen. Sie hoffen und bangen. Das eigentliche Objekt, das Fahren des Autos, steht nicht mehr im Fokus Ihrer Aufmerksamkeit, Ihr Gehirn ist nur noch unter anderem dabei. Sie befinden sich in Raum 1 und 2 gleichzeitig, Ihre Produktivität leidet.

Eine wichtige Beobachtung dabei ist, dass Sie in beiden Prüfungsszenarien die gleichen fahrerischen Fähigkeiten hatten, diese jedoch in Szenario 1 voll abgerufen haben und in Szenario 2 nicht. Ich kenne Menschen, die keine Lehrer geworden sind, weil Sie während der Vorbereitung und Durchführung der Examensprüfung nicht in Raum 1 ankamen. 

Die Maschine in Ihrem Kopf kann sich in Arbeitsprozessen jeweils entscheiden, welche Räume sie betritt. Rational gesehen müsste sie sich so häufig und lange in Raum 1 aufhalten, wie es geht. Aber die Maschine ist nicht rational. Für sie spricht vieles dafür, Raum 1 zu meiden. Dort wartet Anstrengung, das Unbekannte, das Schwierige, das Aufgezwungene und eine Rückmeldung zur eigenen Kompetenz. In Raum 2 und 3 hingegen sind die Aufgaben tendenziell nicht so anstrengend und entsprechen eher dem Naturell der Maschine. Hier geht es um soziale Zusammenhänge, Szenarien, Fantasien und lustvolle Ablenkung. Da die Maschine ein impulsgesteuertes Wesen ist und Anstrengung, Unbekanntes und Fremdsteuerung meidet, ist es schwer sie von Raum 1 zu überzeugen. Ihre Aufgabe ist es, dieses scheue Wesen in diesen Raum zu locken.

Doch wie tun Sie das?

 

 


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