Falsche Wahrheiten und Ihre Folgen

Betrachten wir einen häufigen Gedanken der Self-Help Literatur, das Gesetz der Anziehung:

Sie werden im Leben das Anziehen, was sie denken. Positives Denken wird Ihnen gute Erfahrungen bringen, negative Gedanken hingegen schlechte Erfahrungen. Denken Sie also positiv und visualisieren Sie, was Sie wollen.

Sorry, aber ich denke, wörtlich genommen ist dieses Konzept eine Katastrophe. Denn wäre es objektiv wahr, so ergäben sich weitergedacht folgende Implikationen:

  • Ihre Gedanken haben die Macht, die Realität der Welt zu verändern.
  • Jemand, der ausschließlich positive Gedanken hat, wird ein perfektes Leben führen (und umgekehrt).
  • Entsprechend zeigt die Lebenssituation einer Person, ob sie positiv oder negativ denkt.
  • Die Lebensumstände können durch fleißiges positives Denken „erarbeitet“ werden.
  • Entsprechend obliegt jemandem auch die Verantwortung, durch Gedankenkraft sein Leben zu formen.
  • Die Lebensumstände der Menschen sind also letztlich nur das, was sie sich jeweils verdient haben.

Wie würden sich diese Implikationen auf Ihr Leben auswirken?

  • Bei einem Schicksalsschlag wie einer Krebserkrankung, einem Unfall oder dem Jobverlust hätten Sie ein schlechtes Gewissen - Sie haben dies durch negative Gedanken in Ihr Leben gebracht. Sie würden sich nun zwanghaft darauf fokussieren, positiv zu denken.
  • Bei Erfolg wären Sie stolz auf sich - weil Sie scheinbar positiv gedacht und damit alles richtig gemacht haben. Sie würden sich noch mehr darauf konzentrieren, positiv zu denken.
  • Sie würden Menschen in guten Lebensumständen grenzenlos bewundern.
  • Auf Menschen in schlechten Situationen würden Sie herabblicken - sie sind schließlich selber verantwortlich. Vielleicht halten Sie sich lieber fern von diesen, um nicht mit negativem Denken angesteckt zu werden?
  • Sie würden zu Ihrer eigenen Gedankenpolizei werden, und zwanghaft negative Gedanken unterdrücken und positive erzwingen.

Sind diese Wirkungen sinnvoll? Natürlich nicht. Sie sind für einen Schicksalsschlag nicht verantwortlich - und sollten entsprechend kein schlechtes Gewissen dafür haben; bei Erfolg auf Ihr positives Denken stolz zu sein lenkt von den eigentlichen Dingen ab, welche den Erfolg herbeiführten; Hitler war zeitweilig sicher in einer guten Lebenssituation - speziell nach dem Einmarsch in Frankreich. Doch bewundern sollten Sie ihn dafür nicht; einen Krebskranken auf dem Sterbebett sollten wir nicht für seine Situation verantwortlich machen - und uns auch nicht von ihm fernhalten; wir sollten unsere Gedanken nicht zwanghaft kontrollieren.

Die Wahrheit ist, dass es meistens nicht reicht, an etwas zu denken, um es ins eigene Leben zu bringen. Dass Schicksalsschläge auftreten können, unabhängig von dem, was Sie denken. Dass nicht jeder erfolgreiche Mensch bewundernswert ist. Wenn Sie an Du wirst Anziehen, was du denkst glauben, gehen Sie an der Realität vorbei..

Wie bereits beschrieben reduzieren falsche Modelle über die Welt mitunter unsere Handlungsfähigkeit in ihr. Unter ihrem Einfluss bringen wir Dinge in einen kausalen Zusammenhang, die nicht kausal verbunden sind. Unsere Handlungen können dann nicht bewirken, was sie bewirken sollen. Sie können nicht positiv Denken und so den Krebs heilen. Denken Sie an das Gelassenheitsgebet von Reinhold Niebuhr:

Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Um die Dinge zu ändern, müssen Sie wissen, welche Änderungen die Dinge ändern. Und dazu müssen Sie wissen, wie diese Welt funktioniert. Und dazu müssen Sie Ihre subjektive Wahrheit mit der objektiven Wahrheit in Deckung bringen.