Echtes Papier schlägt digitales

Lange hatte sich handschriftliches Schreiben, Zeichnen oder Mindmappping einer echten Digitalisierung entzogen. Inzwischen können wir Folien auf Displays kleben und mit digitalen Stiften das Gefühl echten Schreibens imitieren. Dabei können wir durch Schaltflächen und Gesten unsere Arbeitsfläche erweitern, beliebige Stiftarten und Farben auswählen, Gezeichnetes korrigieren und verschieben. Andere Quellen können nahtlos eingebettet werden. Es können unbegrenzte Dokumente angelegt werden und diese mit qualifizierten Ordnungssystemen blitzschnell durchsucht werden. Endlose Möglichkeiten also.

Aber kein Ersatz für echtes Papier.

Es geht mir hier nicht um eine mythische Verklärung der Sache. Ich habe Jahre lang Konzeptionen mit digitalem Stift erstellt. Gerade wegen der oben genannten Vorteile. Nach langer Nutzung hat sich aber das Gefühl eingeschlichen, dass echt einfach besser ist. Dabei war es zunächst eher ein subtiler Eindruck, keine klare Gewissheit. Und tatsächlich fiel es mir schwer zu ergründen, warum dies so sein sollte. Wie kann echtes Papier das digitale schlagen?

Ich muss zugeben, ich verstehe es bis heute nicht ganz. Also versuche ich einfach, Erklärungen für die gemachte Erfahrung zu finden:

 

It’s just paper

Echtes Papier ist gegenüber digitalem Papier gleich mehrfach eingeschränkt: Es gibt nicht so viele Werkzeuge und diese sind weniger mächtig. Wie viele Farben stehen uns zur Verfügung? Wie häufig können wir etwas Radieren, bevor es kaum noch zu erkennen ist? Und wie sollten wir ein Foto von wo anders einfügen? 

Wahrscheinlich liegt gerade in dieser Beschränktheit der Mehrwert. Denn echtes Papier zu verwenden…

… zwingt uns, mit weniger Werkzeugen klarzukommen.

… bringt Ablenkungen wie Social Media, Videos etc. aus der unmittelbaren Reichweite.

… bietet nur begrenzte Möglichkeiten, in das Aussehen und die Form des Erstellten zu investieren.

Und all das, lenkt den Fokus auf die eigentliche Aufgabe. Auf den Inhalt.

Es ist eben nur Papier.

 

Real Paper, real location:

Auf echtem Papier zu schreiben, bedeutet, den Gedanken einen echten, physischen Ort zu geben. Zum Beispiel oben links auf Seite 4. Dieser tatsächliche Ort erleichtert eventuell die Anbahnung einer Erinnerung oder auch die Orientierung in einer Fülle von Inhalten.

Bei einem digitalen Dokument gibt es keinen physischen Ort der Aufzeichnung (außer die Festplatte). Vielmehr wird ein Dokument auf dem Bildschirm „simuliert“. Die Simulation ist gut: Wenn wir die Zeichnung an uns heranzoomen, so bleiben die Größenverhältnisse und Abstände der Einzelteile bestehen. Aber es wird ersichtlich, dass dies kein tatsächlicher Ort auf einem Blatt Papier ist. Vielmehr ist die Zeichnung eine Ansammlung zueinander relativer Orte, die den Anfragen des Nutzenden entsprechend dargestellt wird.

Auffällig einschränkend wirkt dieser Umstand bei E-Books - darin „herumzublättern“ ist kein Genuss.

Könnte dies einen Unterschied machen?

 

Visible Evolution

Wenn wir einen Gedanken entwickeln, so überarbeiten wir ihn fortwährend. Auf echtem Papier entstehen also mehrere „Versionen“ eines Gedankens. Könnte es sein, dass wir von der Sichtbarkeit der Vergangenheit profitieren? Dass wir präziser den Kern des Gesuchten herausschälen können?

Bei digitalem Papier sieht am Ende alles schön aus. Aber der Weg zum Produkt ist verschwunden.

 

Real feels real:

Früher habe ich gedacht, dass es vor allem die Haptik von echtem Papier ist, welche es gegenüber digitalem überlegen macht. Aber inzwischen führe ich es lieber als letztes Argument an: Das Gefühl ist schließlich eine subjektive Erfahrung und vielleicht geht es zukünftigen da genau andersherum: Sie könnten das Gefühl auf dem Display bevorzugen.

Stimmen Sie diesen Erklärungen zu? Wenn Sie noch andere haben, schreiben Sie sie mir gerne.

Es soll nicht darum gehen, digitales Schreiben zu verteufeln. Diesen Text schreibe ich auf einem Notebook, weil dies für meine Zwecke besser ist. Aber wenn ich einen Gedanken nicht greifen kann oder mir über etwas klar werden muss, nutze ich echtes Papier.

Digitales Papier ist ein Werkzeug - nutzen Sie es ruhig. Und wenn es wirklich wichtig wird, schreiben Sie auf echtem Papier.

 

 


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