Das Potenzial von Habits

Anne will mehr Abonennten auf Youtube, Bernd mehr Bizepsumfang. Die jeweils wichtigste Tätigkeit, welcher die beiden zum Erreichen ihrer Ziele nachgehen sollten, lässt sich relativ klar benennen: Anne, bitte nehme so oft wie möglich Videos auf, schneide und bearbeite sie um sie anschließend auf Youtube hochzuladen. Bernd, bitte trainiere so häufig wie möglich intensiv und vielfältig deinen Bizeps. Entscheidend ist dabei, wie ausgeprägt sie in diese Tätigkeiten investieren. Wie oft und lange sitzt Anne an ihren Videos? Wie oft und lange trainiert Bernd?

Verschiedene Faktoren werden Einfluss darauf haben, zum Beispiel:

Äußere Faktoren

Motivation

Verfassung

Planung

Reibung

So könnte Bernd sich sagen, dass er einfach dreimal pro Woche ins Fitnesstudio geht. Diese "Planung" ist sehr vage und sorgt für alle möglichen Probleme. Denn nun muss er jeden Tag entscheiden, ob es heute ans Trainieren geht oder nicht, was Reibung erzeugt. Er hängt außerdem stark von seiner täglichen Verfassung, Motivation und äußeren Faktoren ab: Wenn er einen schlechten Tag hatte, durch ein Motivationstief geht oder spontan Termine und Verpflichtungen entstehen, kann und wird er sein Training verschieben. Er wird kognitiv sehr viel damit beschäftigt sein, ein Training auch wirklich stattfinden zu lassen. Die Gedanken um das Training herum sind also mitunter umfangreicher als das Training selbst.

Er könnte aber auch einem Trainingsplan folgen, in welchem die Tage für seine Investments festgelegt sind. So hat er eine bessere Planung vorgenommen und weiß bereits morgens, ob er heute trainieren sollte oder nicht, es entsteht weniger Reibung. Auch wirken sich spontane Termine nun nicht mehr so negativ aus, da Bernd das anstehende Training im Hinterkopf hat. Nun muss er jedoch dafür sorgen, dass er sich auch an seinen Trainingsplan hält, er ist also immer noch abhängig von seiner täglichen Verfassung und Motivation.

Nun betrachten wir Anne, welche sich angewöhnt hat, direkt nach der Arbeit an ihre Videos zu gehen. Sie hat dieses Verhalten so hoch automatisiert, dass sie nichtmal merkt, wie sie nach dem Ausziehen der Schuhe einen Kaffee macht, Räucherstäbchen anzündet und sich an den PC setzt. Es passiert wie von selbst. Es macht sie nervös, wenn sich etwas anderes zwischen sie und dieses Ritual stellt, also schottet sie sich währenddessen von ihrer Umgebung ab. Sie verbringt meist zwischen ein und zwei Stunden daran, bevor sie wieder "auftaucht" und sich der Welt um sie herum widmet.

Welche dieser Vorgehensweisen würden Sie wählen? Es bleibt nur zu sagen Well done, Anne. Bezüglich der oben genannten Faktoren, kommt sie zu einer sehr guten Kombination: Sie braucht keine Planung, um zu investieren. Es passiert einfach. Daher muss sie sich auch nicht täglich für oder gegen die Videos zu entscheiden. Die Reibung, die sie erlebt, ist sehr gering, entsprechend ist sie auch nicht sehr abhängig von ihrer täglichen Verfassung und Motivation. Sie ist kognitiv kaum damit beschäftigt, eine Videosession auch Realität werden zu lassen, die Tätigkeit selbst steht im Vordergrund.

Für Anne scheinen die Faktoren eher umgekehrt Sinn zu machen: Die Reibung ist dann hoch, wenn sie sich nicht an ihre Videos setzt. Dies wird daran erkennbar, dass sie nervös wird, sobald dies passiert. Entsprechend wehrt sie sich erfolgreich gegen äußere Einflüsse und wird durch sie nicht am Investieren gehindert. An einem schlechten Tag arbeitet sie eventuell sogar eher an ihren Videos, denn dies ist für sie der Weg des geringsten Widerstands. An ihren Videos zu arbeiten ist Annes Habit.

Wenn wir uns Ziele setzen, so müssen wir einen Arbeitsprozess durch- laufen, der uns zu ihnen führt. Dieser Arbeitsprozess ist dabei die Variable, über die wir am meisten Kontrolle haben. Entsprechend gilt es, ihn möglichst produktiv zu gestalten. Und dafür wiederum müssen wir sicherstellen, dass die einzelnen Investments, die uns voranbringen, auch tatsächlich getätigt werden. Denn das Ergebnis entsteht als Summe vieler kleiner Einheiten: Wenn Sie ein Buch schreiben wollen, so entsteht es aufgrund vieler kleinerer Schreibsessions. Wenn Sie ein Studium abschließen wollen, so müssen Sie viele kleinere Leistungen erbringen. Wenn Sie einen Dunk beim Basketball schaffen wollen, so werden Sie die vielen, regelmäßigen Sprungübungen zum Ziel führen.

Das regelmäßige Investment in unsere Ziele sollte also auf einer soliden Basis stehen. Darin liegt das Potential von Habits: Sie stabilisieren den Arbeitsprozess auf eine Weise, die kaum reproduzierbar ist. Sie können unsere Investments unabhängiger von unserer Umgebung, Planung, Motivation und Verfassung machen, die Reibung stark reduzieren und die eigentliche Tätigkeit in den Vordergrund rücken.

Relativierend müssen wir jedoch anmerken, dass Anne im Beispiel oben nicht einfach mehr Abonennten wollte und zur Zielerreichung nunmal ein Habit nutzte. Das Habit ergab sich nicht einfach von selbst. Anne hat vielmehr Energie dafür aufgewendet, es zu etablieren. Am Anfang war die Automatisierung gering und Anne musste viel mehr bewusstes Denken darauf verwenden, an die Videos zu gehen. Die Reibung war wesentlich höher und sie brachte sich manches Mal nur unter Mühen zum Arbeiten. Sie hat also durchaus dafür "gezahlt", dieses Habit zu haben.

 

 


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